Handeln bevor es zu spät ist: das RISKID Informationssystem

Stand – März 2022

Übersicht:
Um Misshandlungen sicherer und frühzeitiger zu erkennen und gleichzeitig Eltern vor falschem Verdacht zu schützen wurde von Duisburger Kinder- und Jugendärzten für den Medizinbereich das Informationssystem RISKID eingeführt.

RISKID ist die Abkürzung für RISikoKinderInformationssystemDeutschland.
RISKID ist eine Kommunikationsplattform. Sie hilft Ärzten bei der Diagnostik, wenn es gilt Verdachtsfälle von Kindesmisshandlung abzuklären.
Geschickt agierende Misshandler versuchen oft durch häufigen Arztwechsel (Doctor-Hopping) ihre Misshandlungen zu verschleiern. RISKID hilft gegen dieses Doctor-Hopping. Über das elektronische Informationssystem können die behandelnden Ärzte miteinander kommunizieren und sich über ihre erhobenen Befunde und Diagnosen austauschen.

Kindesmissbrauch: eine ärztliche Diagnose
Kindesmissbrauch wird von Ärzten nach ICD-10 bei nachfolgenden Diagnosen festgestellt

In RISKID werden Kinder eingestellt, bei denen unklar ist, ob eine der o.g. Diagnosen zutrifft.

Funktionsweise von RISKID:
Ablauf:

Die Einstellung eines betroffenen Kindes in das RISKID System erfolgt nach dem Containerprinzip.
Für jeden teilnehmenden Arzt ( Institution, KH, Praxis) ist bei RISKID ein eigener Datencontainer vorhanden, in den er seine Risikopatienten mit Namen und Geburtsdatum einstellt.
Jeder bei RISKID vernetzte Arzt hat nur Einblick und Übersicht über seine eigenen Patienten – diejenigen in seinem Datencontainer.
Ein Informationsaustausch findet zwischen den Ärzten statt, wenn es zu einer gemeinsamen Behandlung eines Kindes kommt, z.B. wenn ein Patient von Arzt A zu Arzt B wechselt.
Die Identifikation eines RISKID-Kindes im System erfolgt über seinen Namen und das Geburtsdatum

Beispiel:
Patient xy aus Praxis A stellt sich in Klinik B. vor. Der behandelnde Arzt in Klinik B macht eine Anfrage an RISKID, ob dieser für ihn neue Patient xy dort gelistet ist. Ist dies der Fall, erscheinen als Suchergebnis die Adressdaten des Arztes A auf dem Monitor.
Klinik B nimmt Kontakt auf zu Praxis A. Beide Ärzte können ihre Befunde und Diagnosen austauschen. Das Ergebnis dieser Fallbesprechung bestimmt das weitere Vorgehen.
Wurden weitere Ärzte und Krankenhäuser aufgesucht, werden auch deren Adressdaten angezeigt und können entsprechend kontaktiert werden.

Aus Datenschutzgründen und wegen der ärztlichen Schweigepflicht nach § 203 StGB hat kein RISKID vernetzter Arzt Kenntnis von allen übrigen in RISKID eingestellte Patienten.
In RISKID werden deshalb auch keine umfangreichen Patientendaten wie Krankheitsverläufe, Laborergebnisse, Röntgenbilder etc. gespeichert.

Jeder bei RISKID vernetzte Arzt bleibt bis zum Informationsaustausch Herr über seine Daten und bestimmt Art und Umfang des Information an den ärztlichen Kollegen entsprechend der Berufsordnung (MBO) der Bundesärztekammer.

Praktizierende Ärzte im Kinderschutz:
Wird ein misshandeltes, missbrauchtes Kind ärztlich untersucht, kann es durchaus schon beim Erstkontakt typische und sichere Hinweise geben, dass die Verletzung nicht durch einen Unfall – wie durch einen Sturz beim Spielen- entstanden sein kann, sondern durch eine Fremdeinwirkung verursacht wurde.
Ob es aber wirklich der Mitschüler bei einer Rangelei war oder das ältere Geschwisterkind beim Herumtollen, wie erzählt wird, läßt sich hingegen oft nicht sofort klären.
Dann führt erst im weiteren zeitlichen Verlauf die Summe von Einzelbefunden in ihrer Zusammenführung zur abschließenden gesicherten Diagnose.

Hier setzt RISKID an. Da Misshandlungen in den meisten Fällen (ca. 50%) keine einmaligen Ereignisse sind, sondern sich wie eine chronische Erkrankung über einen längeren Zeitraum erstrecken, ist es wichtig, dass in dieser Zeit keine Untersuchungsbefunde verloren gehen. Die Gefahr dieses Informationsverlustes ist immer dann vorhanden, wenn aus den unterschiedlichsten Gründen ein mehrfacher Arztwechsel stattfindet.

Bei der Misshandlung und beim Missbrauch von Kindern gehört es zur Strategie von Tätern durch gezieltes häufiges Wechseln des behandelnden Arztes Symptome von Misshandlungen bei den Opfern zu verschleiern (doctor hopping).
Im Rahmen der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle von Lügde und davor, stellt die „Regierungskommission mehr Sicherheit in NRW“ der Landesregierung dazu fest*:

„…In bestimmten Fallkonstellationen kann die einzelne Verletzung keinen ausreichenden Rückschluss auf eine Misshandlung zulassen. Bei einer Gesamtschau wiederkehrender Verletzungen wäre dies aber anders zu beurteilen. Da potentielle Täter oft regelmäßig den Kinderarzt wechseln („doctor-hopping“) und dem aktuell behandelnden Arzt die Krankengeschichte daher nicht bekannt ist, können solche Fälle auch weiterhin unerkannt bleiben. Hier wäre die Einrichtung einer Datenbank zielführend, in welche Fälle eingepflegt werden können, bei denen erst bei Häufung ein konkreter Verdacht anzunehmen wäre.
…. Bei der praktischen Umsetzung dürfte sich eine Orientierung an „riskid“ anbieten, einer Onlinedatenbank für Ärzte“

*Bericht der „Regierungskommission mehr Sicherheit in NRW“ vom 28.Mai 2019,
IV Handlungsempfehlungen, 1. Verstärkung der Frühwarnsysteme,
a) Einführung eines interkollegialen Ärzteaustauschs und einer Verdachtsfalldatenbank, S. 5‐6

RISKID Entstehungsgeschichte:
Die Idee zu RISKID entstand im Jahr 2005. RISKID wurde als Pilotprojekt von Duisburger Kinder- und Jugendärzten zunächst für den Bereich Duisburg konzipiert. Vorausgegangen waren Ermittlungen wegen 5 getöteter Kinder, bei denen bei 2 Kindern das Problem des doctor-hoppings festgestellt wurde.

Da Kindesmisshandlung häufig auch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, Überforderungssituationen bei Suchtproblemen etc. auftritt ist die Vernetzung mit RISKID neben Kinder- und Jugendärzten auch für weitere Facharztgruppen wie z.B. Gynäkologen, Allgemeinärzte, Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeuten, Kinderzahnärzte, Chirurgen etc. interessant.

Notfallambulanzen:
Im klinischen Bereich ist die Möglichkeit sich über RISKID mit allen an der vorausgegangenen Behandlung eines Problemfalls beteiligten Ärzten austauschen zu können, im Rahmen der ambulanten Notdienstversorgung, aber auch für Kinderschutzambulanzen eine hilfreiche Option den medizinischen Sachverhalt durch Zusammenführen von Befunden über RISKID abschließend zu klären.

 

Rechtssituation:
Im 2012 verabschiedeten Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) wird im KKG.
(Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz) in § 4 die Meldung von sog. Geheimnisträgern an die Jugendhilfe geregelt. Sie können sich bei der Jugendhilfe beraten lassen und eine Meldung machen, wenn gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vorliegen.
Eine nach der ärztlichen Berufsordnung zuvor ausreichend abgesicherte Diagnose ist dafür nicht vorgesehen.
Diese Regelung gefährdet Eltern durch nicht gerechtfertigte Meldungen an die Jugendhilfe bei ungeklärtem Sachverhalt und gefährdet betroffene Kinder wegen unterlassener oder zu spät gestellter Diagnosen.
Bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung muß für den kollegialen Informationsaustausch zwischen Ärzten, um zu einer abschließenden Diagnose zu gelangen, zur Zeit erst das Einverständnis der Sorgeberechtigten bzw. potentiellen Misshandler vorliegen. Deshalb kämpft RISKID seit Jahren für eine entsprechende gesetzliche Änderung dieser absurden Rechtssituation.

Ärzte sind nach (Muster-) Berufsordnung (MBO der Bundesärztekammer) verpflichtet, bei der Behandlung ihrer Patienten zusammenzuarbeiten und sich auszutauschen.
Die bestehende Rechtslage verhindert dies ausgerechnet bei den Verdachtsfällen auf Kindesmisshandlung/-Missbrauch.
Wegen der problematischen Rechtssituation lassen sich deshalb bis auf weiteres alle RISKID-Ärzte von den Eltern aller zur Behandlung kommenden Kinder durch eine Einverständniserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht entbinden.

Diese wurde freundlicherweise von der Ärztekammer Nordrhein (AEKNO) als Muster entworfen und RISKID zur Verfügung gestellt. Sie wird den jeweiligen Datenschutzänderungen angepaßt.

Bis auf wenige Ausnahmen stößt dieses Vorgehen bei fast allen Eltern auf eine sehr große Akzeptanz und Unterstützung, können sie doch auf diesem Weg anderen von Misshandlung bedrohten Kindern helfen.
Erstaunlicherweise zeigt die bisherige Erfahrung mit RISKID, dass auch Sorgeberechtigte aus dem Risikobereich bis auf wenige Ausnahmen diese Einverständniserklärung unterschrieben haben.
Allerdings führt die unbefriedigende rechtliche Situation bei manchen ärztlichen KollegenInnen dazu, sich vorerst nicht mit RISKID zu vernetzen, sondern erst auf eine gesetzliche Regelung zu warten, die eine Vernetzung ohne diese Umstände ermöglicht.
Als erstes Bundesland ermöglicht NRW durch eine Regelung im HeilBerG §32 den interkollegialen ärztlichen Informationsaustausch bei Verdachtsfällen, ohne dass dafür ein spezielles Einverständnis der Sorgeberechtigten vorliegen muss.

Tab. 1 Das RISKID-Projekt in der Übersicht

Rechtsstatus: ehrenamtliche Betreuung durch den gemeinnützigen Verein RISKID e.V.RISKID- Ziel: Vernetzung von Ärzten zum interkollegialen Informationsaustausch bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung – Instrument gegen „doctor hopping“Teilnehmer: Jeder Arzt in Deutschland kann sich bei RISKID vernetzen

Datenschutz: Die Vorgaben des Landesdatenschutzes NRW wurden ins RISKID Konzept übernommen. Ärztliches Handeln erfolgt auf der Basis der ärztlichen Berufsordnung (MBO). Wegen Rechtsunsicherheiten wird mit einer von der AEKNO entworfenen Einwilligungserklärung aller zur Behandlung kommenden Sorgeberechtigten gearbeitet.

Kompatibilität: RISKID ist mit jeder Praxis/Kliniksoftware kompatibel – keine Beeinflussung

Kosten: Die Vernetzung mit RISKID und weitere Teilnahme sind kostenlos

Sicherheit: Hoher Sicherheitsstandard durch Zertifizierung und Anschluss an ein Rechenzentrum mit Spezialisierung auf den Betrieb medizinischer Systeme

Datenhoheit: jeder mit RISKID vernetzte Arzt bleibt bis zum Informationsaustausch Herr über seine medizinischen Daten und bestimmt Art und Umfang der Informationen an einen ärztlichen Kollegen

Auszeichnung: 2009 wurde den Initiatoren von RISKID für ihr Kinderschutzprojekt der Ehrenpreis „Bul le mérite“ vom Bunde Deutscher Kriminalbeamten BDK verliehen.

 

Ausblick
„Zwei tote Kinder pro Woche in Deutschland durch Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung -und das seit Jahren – sind für mich als Arzt Aufforderung, den Gesundheitsbereich effektiver einzubinden, um diese Kinder besser zu schützen,“ *
* (Dr. Ralf Kownatzki, Vorsitzender von RISKID e.V., am 11. Mai 2020, auf der Bundespressekonferenz Berlin bei Veröffentlichung der Kriminalstatistik durch das BKA)

RISKID-Anmeldung für Ärzte (Ablauf):
1.über www.riskid.de die website aufrufen
2.Die blaue Schaltfläche RISKID Anmeldung anklicken: es erscheint das Anmeldeformular
3.Das Anmeldeformular ausfüllen und abschicken, wichtig eine Telefonnummer mit guter Erreichbarkeit eintragen
4. Der RISKID IT-Experte nimmt telefonisch Kontakt auf und bespricht gemeinsam die weiteren Schritte.

Zeitaufwand:
Anmeldung bei RISKID zur Vernetzung: 2 min
Abfrage Patient in RISKID ?: 1 min
Einstellen eines Patienten in RISKID: 5 min

 

RISKID Tagesschau 24

Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer, durch BKA Präsident Holger Münch,
Bundespressekonferenz: Stellungnahme RISKID, Phoenix TV, 11.05.2020